In den letzten Jahren hat sich der Europäische Gerichtshof
mehrfach mit den Auswirkungen der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie und der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf das deutsche Urlaubsrecht
beschäftigt und damit das deutsche Urlaubsrecht in vielen Punkten auf den Kopf
gestellt. Seit diesem Sommer gibt es zwei weitere Vorlagen des
Bundesarbeitsgerichts an den Europäischen Gerichtshof zum Thema Urlaubsrecht.
Nachdem der Europäische Gerichtshof am 6. November 2018 (C 684/16 –
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften) entschieden hatte,
dass der gesetzliche Urlaubsanspruch grundsätzlich verfallen dürfe, dies aber
voraussetze, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf seinen konkreten
Resturlaub und einen möglichen Verfall hingewiesen habe, musste sich das
Bundesarbeitsgericht jetzt mit zwei Folgefragen beschäftigen.
Hinweispflicht und
Langzeiterkrankung
Im ersten Fall (BAG Vorlagebeschluss vom 7.7.2020 – 9 AZR
401/19 (A)) geht es um die Frage, ob die Hinweisobliegenheit auch dann besteht,
wenn der Arbeitnehmer dauerhaft erkrankt ist und daher ein Hinweis auf
Resturlaub während der Erkrankung ins Leere gehen muss, da ein erkrankter
Arbeitnehmer keinen Urlaub nehmen kann. Für langzeiterkrankte Arbeitnehmer
hatte der Europäische Gerichtshof bereits im Jahr 2011 entschieden, dass der
Erholungszweck irgendwann nicht mehr nachgeholt werden könne und daher nicht
über Jahre hinweg Urlaubsansprüche aufgebaut werden dürften. Urlaub, der wegen
einer lang andauernden Erkrankung nicht genommen werden könne, verfalle daher
spätestens 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahrs, d. h. Urlaub aus dem Jahre
2020, der wegen Arbeitsunfähigkeit nicht genommen werden kann, verfällt am 31.
März 2022.
Im nunmehr streitgegenständlichen Fall begehrt die Klägerin die
Feststellung, dass ihr aus dem Jahr 2017 noch 14 Urlaubstage zustehen. Die
Klägerin war im Lauf des Jahres 2017 erkrankt und kehrte erst nach dem 31. März
2019 an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Beklagte war der Auffassung, dass der
Urlaubsanspruch aus dem Jahre 2017 mit Ablauf von 15 Monaten und damit am 31.
März 2019 verfallen sei.
In seinem Vorlagebeschluss geht das Bundesarbeitsgericht
davon aus, dass jedenfalls bei einer ganzjährigen Erkrankung kein Hinweis
erfolgen müsse, da der Arbeitnehmer gar nicht in der Lage wäre, den Urlaub zu
nehmen. Für nicht geklärt hält das Bundesarbeitsgericht aber die Frage, ob dies
auch dann gelte, wenn der Arbeitnehmer im Lauf eines Kalenderjahres erkranke
und der Arbeitgeber in diesem Jahr noch nicht auf einen möglichen Verfall
hingewiesen habe. Dabei scheint es dem Bundesarbeitsgericht nicht auf die Frage
anzukommen, wann im Laufe des Kalenderjahrs die Erkrankung eingetreten ist.
Denn zum genauen Beginn der Erkrankung enthält der Beschluss gar keine Angaben.
Dabei wäre es schon interessant gewesen zu erfahren, ob die Rechtsfolgen
tatsächlich dieselben sind, wenn der Arbeitnehmer in einem Fall bereits im
Januar/Februar erkrankt und der Arbeitgeber kaum die Möglichkeit hatte,
Hinweise zu erteilen, oder ob die Arbeitsunfähigkeit Ende des Jahres eintritt
und es für Hinweise schön höchste Zeit gewesen wäre. Für den Fall, dass in
einem solchen Fall ein Hinweis hätte erteilt werden müssen, möchte das Bundesarbeitsgericht auch die Frage klären
lassen, inwiefern ein Arbeitgeber, der seiner Hinweispflicht vor der Erkrankung
nicht nachgekommen ist, die Hinweise auch während der Erkrankung noch nachholen
kann und ob sich dadurch ggf. der Zeitpunkt, zu dem der Verfall eintreten darf,
nach hinten verschiebt.
Verjährung von
Urlaubsansprüchen
Im zweiten Fall geht es um die Verjährung von
Urlaubsansprüchen. Ist der Arbeitgeber seiner Hinweispflicht über Jahre nicht
nachgekommen, könnten sich Urlaubsansprüche über Jahre hinweg aufbauen und müssten
ggf. am Ende des Arbeitsverhältnisses abgegolten werden. Der dem
Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 29. September 2020 – 9 AZR 266/20 (A) – zugrundeliegende Fall
ist in dieser Hinsicht sicher gravierend wahrscheinlich eher selten. Die
Klägerin war seit 1996 bei dem Beklagten beschäftigt und hatte einen jährlichen
Urlaubsanspruch von 24 Arbeitstagen. Im März 2012 bestätigte der Beklagte, dass
die Klägerin noch 76 Urlaubstage aus dem Jahr 2011 und aus den Vorjahren habe und
dieser nicht verfalle. In den Jahren 2012-2017 gewährte der Beklagte der
Klägerin an insgesamt 95 Arbeitstagen Urlaub, sodass die Klägerin bei
Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. Juli 2017 nicht einmal mehr die
Urlaubsansprüche aus dem Jahr 2012 vollständig genommen hatte. Die Klägerin
beanspruchte mit ihrer im Jahr 2018 eingegangenen Klage die Abgeltung von 101
Urlaubstagen. Der Beklagte hatte die Einrede der Verjährung erhoben. Einen
Hinweis, dass der Urlaub möglicherweise verfallen könnte, hatte der Beklagte nie
gegeben. Nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs konnte der Urlaub daher nicht verfallen. Das Bundesarbeitsgericht hält
es aber für möglich, dass jedenfalls die Ansprüche aus den Jahren 2014 und
davor verjährt sein könnten (3-jährige Verjährungsfrist). Der Europäische
Gerichtshof wird nun zu prüfen haben, ob eine Verjährung mit Art. 7 der
Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union im Einklang steht.
Die europäische Urlaubsgeschichte ist also weiterhin nicht
zu Ende erzählt.