Strenge Anforderungen an den Erlass eines Haftungsbescheides nach § 191 Abs. 1 Abgabenordnung

Wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet, kann nach § 191 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) durch einen Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Unter diese Vorschrift fallen nach § 69 AO vor allem die gesetzlichen Vertreter natürlicher und juristischer Personen. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 b des Kommunalabgabengesetzes gilt dies in Brandenburg, wie in den anderen Bundesländern, auch für kommunale Steuern, Gebühren und Beiträge. Die Vorschrift eröffnet der zuständigen Behörde bei Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen Ermessen, ob sie den Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will (Entschließungsermessen) und welcher von mehreren Haftungsschuldnern dies sein soll (Auswahlermessen). Das OVG Münster hat in einem Beschluss vom 20. August 2021 – 14 B 1192/21 – jetzt strenge Anforderungen an die Ausübung dieses Ermessens gestellt.

Die Ermessensentscheidung ist danach nur dann fehlerfrei, wenn die Behörde den für die Ausübung des Ermessens erheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Bezogen auf die Ausübung des Auswahlermessens bedeutet dies, dass die Behörde u.a. ermitteln muss, ob weitere Personen als Haftungsschuldner im Sinne des § 191 Abs. 1 Satz 1 AO vorhanden sind oder nicht. Geht die Behörde davon aus, nur die von ihr in Anspruch genommene Person sei Haftungsschuldner, obwohl auch andere Personen als Haftungsschuldner in Betracht kommen, fehlt es, so das Gericht, an einer tragfähigen Grundlage für die sachgerechte Ausübung des Auswahlermessens und die Ermessensentscheidung ist schon deshalb fehlerhaft.

Mit dem beanstandeten Bescheid hatte die Behörde die Geschäftsführerin einer Gesellschaft (UG) für die Gewerbesteuerschuld der Gesellschaft in Anspruch genommen. Im Laufe des Verfahrens stellte sich heraus, dass auch der Ehemann der Geschäftsführerin, der zeitweise die Geschäftsführung innehatte, als Haftungsschuldner in Betracht kam. Dies hatte die Behörde nicht geprüft und deswegen in dem angefochtenen Bescheid auch nicht berücksichtigt. Das führte zur Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides.

Wie streng die Anforderungen an die Ermessensausübung sind zeigt sich darin, dass es nach Auffassung des Gerichts unbeachtlich war, dass die in Anspruch genommene Geschäftsführerin weder im Verwaltungs- noch im Widerspruchsfahren darauf hingewiesen hatte, dass zeitweise nicht sie, sondern ihr Ehemann Geschäftsführer war. Die Behörde hätte dies von sich aus ermitteln müssen. Ein Blick ins Handelsregister gehöre zu den Selbstverständlichkeiten vor jeder Inanspruchnahme des Geschäftsführers oder der Geschäftsführerin einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung.

Der Haftung für eine fremde Schuld geht regelmäßig die Inanspruchnahme desjenigen voraus, der die Steuer, die Gebühr oder den Beitrag unmittelbar schuldet. Dies kann ebenfalls eine Mehrheit von natürlichen oder juristischen Personen sein, die gemäß § 44 AO als Gesamtschuldner haften. Auch hier trifft die Behörde eine Ermessensentscheidung, wen sie in Anspruch nehmen will. Zwar sind die Anforderungen, die die Verwaltungsgerichte in ihrer Rechtsprechung bisher an diese Ermessensausübung gestellt haben, eher gering. So wird regelmäßig, jedenfalls außerhalb des Steuerrechts, weder eine Begründung der Ermessensauswahl gefordert noch beanstandet, wenn lediglich ein Gesamtschuldner herangezogen wird. Es sei denn, dass für eine andere Auswahl ein hinreichender schutzwürdiger Anlass bestand (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1993 – 8 C 57/91 –, juris).

Gleichwohl sollte die Entscheidung des OVG Münster auch bei der Inanspruchnahme aus einer öffentlich-rechtlichen Gesamtschuld berücksichtigt werden. Vor der Heranziehung eines Leistungsverpflichteten sollte daher sorgfältig geprüft werden, ob (1.) weitere Verpflichtete – als Gesamtschuldner – in Betracht kommen und (2.) welche dies sind. Schließlich (3.), ob besondere Umstände für oder gegen die Heranziehung eines der Gesamtschuldner sprechen.  Eine auf dieser Basis getroffen Auswahlentscheidung dürfte dann rechtssicher sein.

EuGH schafft Klarheit hinsichtlich der Mindestsätze der HOAI – sie gelten für Alt-Verträge weiter (EuGH, Urteil vom 18. Januar 2022, Rs. C-261/20)

Seit der Entscheidung des EuGH vom 4. Juli 2019 – Rs. C-377/17 – bestand Rechtsunsicherheit hinsichtlich von Altverträge, ob bei diesen die Mindestsätze der HOAI noch Anwendung finden würden. Diese Unsicherheit wurde jetzt beseitigt.

Mit einem Paukenschlag entschied der Europäische Gerichtshof am 18. Januar 2022 über die lange umstrittene und seit Sommer 2019 intensiv diskutierte Frage zugunsten des nationalen Rechts. Gegen das Votum des Generalsanwalts beim EuGH hat der Europäische Gerichtshof bestätigt, dass in Alt-Verträgen die Mindestsätze weiterhin gefordert werden können.

In seiner Entscheidung vom 4. Juli 2019 – Rs. C-377/17 – hatte der Europäische Gerichtshof in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland entschieden, dass der verbindliche Preisrahmen der HOAI gegen die bis zum 28. Dezember 2009 in nationales Recht umzusetzende Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG) verstößt.

Durch die festgestellte Verletzung von EU-Recht durch die Regelungen zum Mindestsatz der HOAI wurde in der Instanzenrechtsprechung diskutiert, ob in bestehenden Verträgen die Planer bei abweichenden Honorarvereinbarungen die Mindestsätze der HOAI verlangen können oder ob dies durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Juli 2019 ausgeschlossen wurde.

Diese Frage hat der europäische Gerichtshof auf den Vorlagenbeschluss des BGH vom 14. Mai 2020 – VII ZR 174/19 – zugunsten des nationalen Rechts klar beantwortet. Demnach richten sich die Richtlinien der Europäischen Union nur an die jeweiligen Mitgliedsstaaten und erlegen nicht den Einzelnen Verpflichtungen auf.

Hiervon wurden in der Vergangenheit durch den Europäischen Gerichtshof vielfältige Ausnahmen vorgenommen, die jedoch in der vorliegenden Entscheidung zur HOAI keine Erwähnung gefunden haben. Insoweit steht fest, dass sich das ursprüngliche Urteil im Vertragsverletzungsverfahren ausschließlich gegen die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat richtet und nicht Einzelnen individuelle Rechte verleiht. Aus diesem Grund sind die Mindestsatzregeln der HOAI weiterhin anwendbar, auch wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen. Auch dürfen sich Gerichte und sonstige Rechtsanwender nicht auf das Unionsrecht zur Auslegung der entsprechenden Vorschriften der HOAI berufen.

Dies gilt auch für die öffentliche Hand, sofern sie Planungsleistungen nach der HOAI beauftragt. Dies stellt kein Über-/ Unterordnungsverhältnis dar, in dem die öffentliche Hand das Unionsrecht zu beachten hat. Vielmehr gilt in diesem privatrechtlichen Verhältnis zum Auftragnehmer das nationale Recht der HOAI.

Dies führt im Ergebnis dazu, dass über diverse anhängige Aufstockungsklagen entschieden werden muss, wobei die Frage der Unionsrechtswidrigkeit der Vorschriften zum Mindestsatz der HOAI keine Berücksichtigung finden dürfen.

Es ist gut, dass der europäische Gerichtshof für diese Klarheit gesorgt hat. Diese ist jedoch nur für Altfälle relevant, in denen die HOAI in der bis zum 31. Januar 2020 geltenden Form vereinbart wurde. In der ab dem 1. Januar 2022 geltenden HOAI wurde das „Korsett“ der Mindest- und Höchstsätze abgelegt. Stattdessen liefern die Basishonorarsätze bzw. die Spanne zwischen oberem Honorarsatz und unteren Honorarsatz die Orientierung für eine angemessene Honorierung von Planungsleistungen.

Rückforderung von Corona-Hilfen – Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz

Der Bund und die Länder haben in den letzten zwei Jahren eine Vielzahl von Hilfsprogrammen aufgelegt, um durch die Pandemie veursachte wirtschaftliche Notlagen von Privatpersonen oder wirtschaftlichen Unternehmen abzumildern: Überbrückungs-, Neustart- und Härtefallhilfen, Soforthilfeprogramme, Coronahilfen für Start-ups, November – Dezemberhilfen. Die Aufzählung ist nicht abschließend.

Nach Auszahlung der Hilfsgelder häufen sich mittlerweile die Verfahren, die die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Mittelgewährung zum Gegenstand haben. Kommt die Behörde, die die Hilfsgelder bewilligt hat, zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Auszahlung nicht gegeben waren, werden die Beträge durch Verwaltungsakt zurückgefordert. Entsprechende Rückforderungsverfahren beschäftigen zunehmend die Verwaltungsgerichte (vgl. etwa VG Gießen, Urt. vom 21. April 2021 – 4 K 3825/20 und vom 5. November 2021 – 4 K 615/21, VG Würzburg, Urt. vom 18. Oktober 2021 – 8 K 21.716, VG München, Urt. vom 16. Dezember 2021 – 31 K 21.3624, VG Düsseldorf, Urt. vom 14. Dezember 2021 – 20 K 4706/20). Die Bedeutung dieser Verfahren wird im Jahr 2022 deutlich zunehmen.

Für die Betroffenen ist die Prüfung, ob die Rückforderungen berechtigt ist oder ob der Bescheid angefochten werden soll, nicht selten von existenzieller Bedeutung. Dabei geht es nicht nur darum, ob die Rückforderung rechtmäßig ist. Denn die Beantwortung dieser Frage bildet eine wichtige Weichenstellung für Folgefragen: Besteht eine Strafbarkeit wegen Subventionsbetruges? Droht bei Unternehmen der Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungsverfahren? Sind gewerberechtliche Konsequenzen (Unzuverlässigkeit?) zu befürchten. Wer diese komplizierten Rechtsfragen nicht selbst zuverlässig beantworten kann, ist gut beraten, sich anwaltlichen Beistand in der Auseinandersetzung über den Rückforderungsbescheid zu sichern.

Die Sozietät verfügt über langjährige Erfahrung in fördermittelrechtlichen Verfahren und berät gerne in außergerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzungen über die Rückforderung öffentlicher Mittel.

Pflicht zur elektronischen Korrespondenz mit den Gerichten ab dem 1.1.2022 auch für Kommunen, Landkreise und Ministerien

Ab dem 1.1.2022 trifft – neben den Rechtsanwälten – auch Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts die Pflicht, Schriftsätze an die Gerichte ausschließlich elektronisch zu übermitteln. Das bestimmt § 130d ZPO. Die praktische Bedeutung dieser Gesetzesänderung ist nicht zu unterschätzen. Die Einreichung von vorbereitenden Schriftsätzen und Anträgen bzw. Erklärungen in Papierform (oder per Telefax) ist nicht mehr möglich; sie sind insbesondere auch nicht geeignet, gesetzliche oder gerichtlich gesetzte Fristen zu wahren.

Eine Ausnahme von der Pflicht, Schriftsätze elektronisch zu übermitteln, sieht das Gesetz nur für den Fall vor, dass eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist. Gedacht ist dabei an Fälle, in denen zum Beispiel aufgrund eines Serverausfalles eine elektronische Übermittlung unmöglich ist (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drs. 818/12 S. 36). Demgegenüber werden von der Ausnahmevorschrift nicht Konstellationen erfasst, in denen es die Behörde in den letzten Monaten versäumt hat, die Voraussetzungen für eine elektronische Kommunikation mit den Gerichten zu schaffen.

Die Pflicht zur elektronischen Kommunikation gilt nicht nur für Verfahren der Zivilgerichtsbarkeit. Denn dem § 130d ZPO nachgebildete Rechtsvorschriften finden sich auch in § 55d VwGO, § 46g ArbGG, § 65d SGG, § 52d FGO und § 14b FamFG. In Verwaltungs- oder Arbeitsgerichtsprozessen muss die öffentliche Hand ab dem 1.1.2022 also ebenfalls ausschließlich elektronisch die Schriftsätze übermitteln und zwar unabhängig davon, wann das Verfahren gerichtshängig geworden ist. Hat die Gemeinde gegen ein für sie nachteiliges Urteil des Verwaltungsgerichts im Dezember 2021 zulässigerweise noch durch Einreichung eines Schriftsatzes auf amtlichen Briefbogen einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, muss dessen Begründung ab dem 1.1.2022 elektronisch eingereicht werden. Post oder Fax reichen nicht mehr. Sind seitens der Behörde die Voraussetzungen für eine elektronische Kommunikation bisher nicht geschaffen worden, bleibt wohl nur die elektronische Einreichung über eine Anwaltskanzlei. Das Behördenprivileg des § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO setzt nämlich nicht die Pflicht zur zwingenden elektronischen Kommunikation außer Kraft.