ArbeitsrechtVON Dr. Anja Böckmann
Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser

Führt eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof zur Wiedereinführung der Stechuhr?

Der Europäische Gerichtshof hat zum wiederholten Mal ein Zeichen gesetzt und Arbeitnehmerrecht gestärkt. Das mediale Echo ist riesig. Der Berliner Tagesspiegel nennt es eine Kampfansage an „Flatrate-Arbeit“, zeit-online stellt die Frage, ob man Freizeit durch Reglementierung rette Was ist geschehen?

Dem Europäischen Gerichtshof lag die Klage einer spanischen Gewerkschaft vor, mit der eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank in Spanien verpflichtet werden sollte, ein System zur Erfassung der von deren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Schon Anfang des Jahres hatte der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof ein klares Plädoyer zugunsten der Gewerkschaft gehalten. Da der Europäische Gerichtshof den Generalanwälten in der Regel folgt, waren jedenfalls Arbeitsrechtler nicht wirklich überrascht, dass der Europäische Gerichtshof am 14. Mai 2019 den Gewerkschaften recht gegeben hat (Az. C-55/18). Danach sind die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeit so zu gestalten, dass die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit einschließlich der Überstunden sowie der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten festgestellt werden könne. Ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werde, könne weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden, so dass es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich sei, ihre Rechte durchzusetzen. Um die praktische Wirksamkeit der von der Arbeitszeitrichtlinie und der Charta verliehenen Rechte zu gewährleisten, müssten die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden könne. Es obliege den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere der von ihm anzunehmenden Form, zu bestimmen und dabei gegebenenfalls den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten, sogar der Größe bestimmter Unternehmen Rechnung zu tragen.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sieht das nun als Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert. Gewerkschaften jubilieren. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau), Robert Feiger, sprach von einem „Meilenstein für die Stärkung fairer Arbeit“.

Ausweislich einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben Arbeitnehmer im letzten Jahr durchschnittlich 52 Überstunden geleistet, davon die Hälfte unbezahlt. Aber mit diesen Zahlen sollte man vorsichtig sein. Überstunden können auch in Freizeit abgegolten werden. Viele Arbeitsverträge sehen eine vollständige oder teilweise Abgeltung von Überstunden mit dem Grundgehalt vor. Ob derartige Klauseln im Einzelfall auch wirksam formuliert sind, steht dabei auf einem anderen Blatt. Jedenfalls würde eine exakte Arbeitszeiterfassung den betroffenen Arbeitnehmern nicht automatisch zu mehr Geld verhelfen. Im Mindestlohnbereich und besonderen Niedriglohnbranchen wie z. B. dem Gebäudereinigerhandwerk gibt es ohnehin schon eine Aufzeichnungspflicht. Auch das Arbeitszeitgesetz sieht in § 16 Abs. 2 ArbZG vor, dass Arbeitszeiten, die über 8 Stunden am Tag hinausgehen, dokumentiert werden müssen.

Das Problem stellt eher die Akzeptanz dieser Regelungen bei Arbeitgebern, aber mittlerweile auch bei vielen Arbeitnehmern dar. Das Arbeitszeitgesetz regelt nämlich vor allem die Dauer und mittelbar auch die Lage der zulässigen Arbeitszeit. So muss zwischen den Arbeitstagen eine mindestens 11-stündige Ruhepause eingehalten werden. In Deutschland gilt – insoweit über die Europäische Arbeitszeitrichtlinie hinaus, die von einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden ausgeht – außerdem, dass die kalendertägliche Arbeitszeit 10 Stunden in der Regel gar nicht überschreiten darf. Beides widerstrebt zusehends auch Arbeitnehmern. Diese wünschen sich nämlich immer stärker eigenbestimmtes Arbeiten, wo immer das möglich ist. Gerade bei verantwortungsvollen Tätigkeiten möchte man nicht alles stehen und liegen lassen müssen, weil inmitten einer produktiven Phase die 10 Stunden erreicht sind. Arbeitnehmer wünschen sich Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das bedeutet aber auch, dass sie über den Tag verteilt längere Pausen machen wollen – z. B. für die Kinderbetreuung –, um sich dann abends noch einmal an den Schreibtisch zu setzen. Beendet der Arbeitnehmer dann die Arbeit erst gegen 22.30 Uhr, darf er am nächsten Tag erst wieder um 9.30 Uhr im Büro sein. Die Arbeitszeit im Homeoffice wird daher in der Regel nur als Summe der dort am Tag geleisteten Arbeitszeit erfasst, um ständiges Ein- und Ausloggen zu vermeiden – und sicher auch, um die Nichteinhaltung der 11-stündigen Ruhezeit im besten beidseitigen Einvernehmen zu kaschieren. Und wo fängt Arbeit an und wo hört sie auf? Viele Arbeitnehmer empfangen dienstliche Mails auf ihrem privaten Handy. Ist es dann schon Arbeitszeit, wenn ein Mitarbeiter seine Mails checkt und dabei auch eine dienstliche Mail liest, sich aber dazu entscheidet, diese erst am nächsten Tag zu beantworten? Und wenn es Arbeitszeit ist, wie sollen solche Bruchteilchen an Arbeitszeit aufgezeichnet werden? Immer mehr Arbeitnehmer – vor allem gutbezahlte – arbeiten in Vertrauensarbeitszeit, d.h. eine feste Arbeitszeit ist gar nicht festgelegt. Sie müssen sich an das Arbeitszeitgesetz halten, der Arbeitgeber vertraut ihnen, dass sie ihren Job erledigen und dieses Vertrauen nicht ausnutzen. Eine Kontrolle der Arbeitszeit findet nicht statt. Auch diese Arbeitnehmer müssen Arbeitszeiten über 8 Stunden am Tag eigentlich notieren. Kontrolliert wird das in der Regel alles nicht. Bislang ist kein Fall bekannt geworden, in dem die beschriebenen Praktiken von den für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden beanstandet worden wäre. Vieles läuft inzwischen nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“.

Vertrauen ist dem Europäischen Gerichtshof aber nicht ausreichend. Regeln sind dazu da, eingehalten zu werden. Jeder Arbeitnehmer hat das Recht, vor überlangen Arbeitszeiten geschützt zu werden. Deswegen sollen die für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden die Möglichkeit bekommen, die Einhaltung dieser Regeln auch kontrollieren zu können. Der deutsche Gesetzgeber sollte die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes dazu nutzen, nicht nur einfach eine erweiterte Aufzeichnungspflicht zu regeln, die zu mehr Bürokratie führt. Vielmehr sollte er eine praktikable Lösung finden, die Arbeitgebern und Arbeitnehmern mehr Flexibilität als das derzeitige Arbeitszeitrecht ermöglicht und damit auch die Akzeptanz dieser Regelungen (wieder) erhöht. Es wäre ja schon viel gewonnen, die Vorgaben dort, wo flexibles und selbstbestimmtes Arbeiten vom Arbeitgeber ermöglicht wird, auf wöchentliche Höchstarbeitszeiten festzulegen und ansonsten die Einteilung dem Arbeitnehmer weitestgehend selbst zu überlassen. Unter dieser Prämisse könnte man auch auf die 11-stündige Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen verzichten, wobei hierfür wahrscheinlich auch das Europäische Recht geändert werden müsste. Dann würde es für die Aufzeichnungspflicht reichen, wenn der Arbeitnehmer lediglich die wöchentliche Arbeitszeit ohne Uhrzeiten notiert. Eine solche Privilegierung selbstbestimmten Arbeitens, würde die Attraktivität flexibler Arbeitszeiten auch für Arbeitgeber erhöhen. Dort, wo in festen Schichtplänen gearbeitet wird, gibt es ohnehin meist schon heute detaillierte Zeiterfassungssysteme, mit denen auch Pausenzeiten erfasst werden. Auch sollte niemand ernsthaft erwarten, dass auch kürzeste Arbeitszeiten von unter fünf Minuten gleich als Arbeitszeit gelten. Denn andersrum stellt es in den wenigstens Unternehmen ein Problem dar, wenn die Arbeit für einen kurzen privaten Austausch unterbrochen wird. Ob die so erfassten Überstunden dann auch bezahlt werden, hängt aber weiterhin davon ab, was die Parteien vereinbart haben. Die Statistiken werden sich dadurch also nicht zwingend ändern.